Es war einmal eine Prinzessin, deren Haut war so weiß wie Schnee, ihre Haare glänzten schwarz wie Ebenholz und ihre Lippen waren rot wie Blut… so weit, so bekannt. Wir wissen es alle: Schneewittchen hatte es schwer. Denn ihre böse Stiefmutter wollte sie um jeden Preis loswerden.
Aber hat sich schon mal jemand gefragt, welche Beweggründe die Königin hatte? Ja – Serena Valentino präsentiert uns die andere Seite der Geschichte in einer Adaption mit zeitgeistig-psychologischem Twist, der die Opferrolle interessant umdeutet.
Die Graphic Novel setzt am Tag der (erneuten) Hochzeit des Königs ein. Schneewittchens zukünftige Stiefmutter ist die Tochter des verstorbenen Spiegelmachers. Sie ist wunderschön und ihrer noch kleinen Bonus-Tochter herzlich zugetan. Das wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern. Kein Zickenkrieg und Schönheitsterror weit und breit! Wie schön. Doch dann…
… kippt die Friede-Freude-Eierkuchen-Welt. Der König glänzt die meiste Zeit mit Abwesenheit und überlässt seine Mädels sich selbst. So haben die drei Cousinen des Königs und der intrigante Spiegel (die wahre fiese Möpp in dieser Geschichte) freie Bahn. Sie verpassen der Königin eine Art Gehirnwäsche bis die schließlich nicht mehr so recht weiß, wer Freund und Feind ist. Also klammert sich an die einzige Konstante ihres Lebens: ihre Schönheit. Mehr sei hier aber nicht gespoilert. Das Ganze ist jedenfalls schlüssig und lässt einen ordentlich mitfiebern, ob die Königin nicht vielleicht doch noch die Kurve kriegt und aufhört, ihre Schutzbefohlene zu piesacken. Bzw. sie gleich ganz aus dem Weg zu räumen.
(c) Carlsen Comics
Die Grafik des Comics erinnert stark an Scherenschnitte, was gut zur Märchenhaftigkeit der Geschichte passt. Als Akzentfarbe dient ein quietschiges Granny-Smith-Grün. (Hätte das nicht auch ein Red-Delicious-Rot sein können? ;-)) Die reduzierte Einfarbigkeit hat – wie ich finde – eine interessante Wirkung. Sie gibt der Scherenschnitt-Optik eine reizvolle Tiefe, bringt aber nicht zu viel Aufregung hinein, so dass das alles noch angenehm abstrakt wird. Neben der grafischen Gestaltung ist auch der Text alles andere als gewöhnlich. Die Erzählstimme ist sehr rhythmisch, das gibt der Geschichte einen ganz eigenen Sound und einen guten Flow. Und es passt gut zu ihrer Märchenhaftigkeit.
Und noch eine kleine Anekdote aus der Übersetzungswerkstatt: In der englischen Version wird Snow White oft bei ihrem Kosenamen „Snow“ gerufen. Das hätte ich mir auch gut für die deutsche Version vorstellen können, schließlich handelt es sich um eine US-amerikanische Adaption des Grimmschen Märchens. Und dem deutschen Lesepublikum kann man schon zutrauen, das zu verstehen, oder? Doch die Redaktion hat anders entschieden und das klassische Schneewittchen gewählt, mit „Schneechen“ als Koseform. Das fand ich mutig, weil mehr als doppelt so lang! Aber sie haben an den Stellen, wo der Sprechblasenplatz wirklich zu knapp ist eine sehr elegante Lösung gefunden.